Die Mäßigkeit heißt in den meisten Tarotdecks die 14. Karte der großen Arkana, bei Aleister Crowley ist es die Kunst.

Der Narr hat den Tod überwunden. Neue Räume haben sich geöffnet. Nun muss der Narr lernen, den Energien zu trauen. Er muss sie fließen lassen. Es ist Zeit, dem eigenen Ego die Macht zu entziehen und das Leben anzunehmen ohne einzugreifen. Es gilt, dem Lauf der Welt zu vertrauen, statt zu versuchen ihn zu kontrollieren.

Die Mäßigkeit prüft, ob das wirklich erfolgreich geschieht. Sie gleicht aus, justiert nach und schafft die richtige Balance.

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Die Mäßigkeit im Tarot

Die kosmische Ordnung unterliegt einem universellen Gleichgewicht. Dies ist quasi die „Goldene Mitte“.

die goldene Mitte

Bei jeder Waage gibt es diese goldene Mitte. Je mehr es uns gelingt, die Energien ungehindert fließen zu lassen, desto stärker ist die Waage in Balance. Ohne unsere Einmischung greifen die universellen Energien ineinander und entfalten ihre wahre Größe. Viele Räume öffnen sich und alles fügt sich. Es ist jedoch nicht leicht, sich dem Leben voller Vertrauen hinzugeben.

Die Mäßigkeit lehrt, uns selbst nicht mehr im Weg zu stehen, sondern Teil des Flusses zu sein, Teil der kosmischen Ordnung.

Der Ausgleich

Wir sehen auf der Tarotkarte „Die Mäßigkeit“ wie von einer Person das Wasser von einem Gefäß in ein anderes gegossen wird. Auf einigen Kartendecks, wie auch beim Waite-Tarot hat diese Person einen Fuß selbst im Wasser, den anderen an Land. Das Wasser steht seit jeher für die Welt der Emotionen, für das Unbewusste und das Intuitive. Der Fuß auf der Erde zeigt den bewussten Bereich, die Tatsache „mit den Beinen fest im Leben zu stehen“.

Es geht also nicht nur bei der Darstellung der Krüge darum, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten – anders ausgedrückt einen Ausgleich der Dualität. Der Versuch diesen Ausgleich zu erzeugen, also in der goldenen Mitte zu sein, kann als ein Weg der Heilung gesehen werden. Der Narr darf an dieser Station noch einmal nachjustieren.

Alles entspringt einer Quelle

Wird das Wasser aus dem einen Krug immer wieder in den anderen Krug gegossen und umgekehrt, dann vermischen sich die Ausgangssubstanzen immer mehr miteinander. Die Gegensätze brechen auf. Das Yin fließt in das Yang, das Yang in das Yin und letztendlich erkennen wir: Alles entspringt einer Quelle.

Ebenso können wir selbst immer wieder alles miteinander vermengen, um etwas Neues zu erschaffen. Und letztendlich sind wir gut beraten, wenn wir darauf achten, dass wir nichts daneben gießen, uns nichts verloren geht. Es ist ein Geben und Nehmen ohne zu verschwenden.

Einst geschlechtslos, heute oft weiblich

Auf den traditionellen Karten ließ sich der dargestellten Person oft kein Geschlecht zuordnen. Dies ist bei dieser Karte auch nicht wichtig. Wir müssen hier nicht einordnen, irgendwelche Schubläden öffnen und einsortieren.

Später änderte sich dies jedoch und die Person der Karte wurde oft als Frau dargestellt. Vielleicht ein Fehler, vor allem in der heutigen Zeit der Co-Creation. Es wird immer deutlicher, dass wir in erster Linie Mensch sind. Wir alle tragen sowohl weibliche, als auch männliche Anteile in uns. Jede:r Einzelne darf in sich selbst die richtige Ausgewogenheit finden und zwar völlig unabhängig von der äußeren Wirkung.

Bei Crowley beispielsweise ist die Person androgyn gehalten. Sie trägt auf eine spezielle Art ganz bewusst beide Anteile deutlich erkennbar in sich. Wir kommen noch darauf zurück.

Das rechte Maß

Die Mäßigkeit: Nun, ich frage mich da auch automatisch: Was soll gemäßigt werden oder wo genau sollen wir Maß halten?

Das Wasser fließt in beide Richtungen. Das spricht dafür, dass das rechte Maß gesucht wird. Für was aber stehen die Kelche? Für unsere Innen- und unsere Außenwelt? Yin und Yang? Die materielle und die immaterielle Welt? Ich denke, sie stehen für die Dualität an sich, egal wo sie sich zeigt.

Die Art und Weise, wie die Figur auf der Karte steht und bedächtig das Wasser der Kelche vermischt, vermittelt einen tiefen Frieden. Es breitet sich Ruhe aus und eine angenehme Form der Geduld ist zu Gast.

Allen Dingen wird der gleiche Wert beigemessen und dies bedeutet auch: Alles was du bist ist ein Wunder.

Die Tarotkarte „Die Mäßigkeit“ wird im englischen Temperance genannt. Vermutlich bezieht sich das nicht so sehr auf die direkte Übersetzung von „Maßhalten, im Sinne von Abstinenz“. Es passt einfach nicht wirklich zur Symbolik der Karte. Eher passt es zum lateinischen „tempor“ – eine Zeitspanne, die ausdrückt „Zeit für alle Dinge unter dem Himmel“. Oder auch zu „Temperare“ – das Mischen, Verbinden.

Im alten Babylon war in den Sakralen von der Weisen Göttin (auch Greisin genannt) die Rede. Sie wurde als eine Person erwähnt, die die Elemente mischt. Durch dieses Mischen sollten alle Dinge für jegliche Jahreszeit hergestellt werden. Ihre Schüssel war der Himmel selbst, bestehend aus reinem Lapislazuli.

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Die Mäßigkeit zwischen Tod und Teufel

Die Mäßigkeit steht zwischen Tod und Teufel. Meist engelsgleich mit Flügeln dargestellt, hält sie an diesem Ort die Balance. Barbara Walker¹ interpretiert die Karte als Zeichen der Liebe und betont, dass in den gnostisch-alchemistischen Texten schon immer die Liebe zwischen Tod und Teufel stand.

Was ist stärker als Hölle und Tod? Die Liebe ist die triumphale Bezwingerin beider […] Liebe ist um- und verwandelnder Art. Die großartige Wirkung der Liebe besteht darin, alle Dinge in ihre eigene Natur umzuwandeln, welche nun Güte, Süße und Vollkommenheit ist.

Walker begründet ihre Theorie mit einem Blick in die Geschichte.

In Südostasien, Mesopotamien und Ägypten war das Vermischen von männlichem und weiblichem Wasser die „kosmische sexuelle Vereinigung„. In sumerisch-babylonischen Mythen wird die Schöpfung kosmisch befruchtet durch das: „Eingießen der Samenflüssigkeit Apsus, des Himmelsvaters in die Uteruswasser Tiamats, der Meeresmutter, aus deren Tiefen alles geboren wurde„. So auch die Welt.

Hinduistische Texte beschreiben die vollkommene, gesegnete Verbindung von Gott (Shiva) und Göttin (Kali) als „wie das fließen von Wasser in Wasser„.

Auch der Wasserkrug selbst hat eine große mythologische Bedeutung. So steht er beispielsweise bei Demeter, Göttin der Erde und des Meeres, für den Schoß der Wiedergeburt. In Indien war der Wasserkrug in den Gottesdiensten der Wohnsitz des Gottes, des Gottes Thron.

Zufall, dass der Thron im indischen „pitha“ heißt und im Griechischen das Wort „pithos“ übersetzt das Gefäß, die Vase ist?

Mir persönlich gefällt die Vorstellung, dass die Mäßigkeit ein Symbol der Liebe ist und diese zwischen Tod und Teufel steht.

Die Mässigkeit im Waite Tarot

Die Mäßigkeit im Waite Tarot

Die Karte zeigt einen geflügelten Engel.

[…] mit dem Zeichen der Sonne auf seiner Stirn und dem Quadrat und Dreieck der Siebenheit auf seiner Brust.“

E. Waite

Waite spricht von „seiner Brust“, sagt aber auch „die Gestalt ist weder männlich noch weiblich.“ Auch bei Waite vermischt die Figur die Essenzen des Lebens miteinander. Ein direkter Pfad „führt zu unbestimmten Höhen am Rande des Horizonts, darüber erhebt sich ein großes Licht, in dem sich kaum erkennbar eine Krone gestaltet“. (Waite)

Für Waite ist diese Krone das Geheimnis des Lebens, welches sich dem Menschen durch seine stetige Wiedergeburt offenbart.

Waite sagt, dass durch die Mäßigkeit die psychische und materielle Natur gemäßigt wird, im Sinne einer Harmonisierung und einer Verbindung der beiden Aspekte.

Es gilt, eine Art Mittelweg zu finden. Egal was im Außen passiert, bewege dich entlang deiner goldenen Mitte voran.

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Die Kunst im Crowley Tarot

Die Mäßigkeit wird bei Crowley „Die Kunst“ genannt.

Crowley sagt:

Die größte Leistung der Alchemie war das Bewirken von Wandlung, die Transmutation von Objekten, Eigenschaften, Farben und so fort, in ihr Gegenteil.

Deswegen, so Crowley, sei der rote Löwe weiß und der weiße Adler rot dargestellt.

Ein wenig schließt sich bei Crowley der Kreis zu Barbara Walker, so sagt er doch, auf der Karte seien die Liebenden der sechsten Tarotkarte dargestellt – nun verschmolzen zu einer androgynen Gestalt. „Dies stellt den Vollzug der Königlichen Hochzeit dar.“ (Crowley)

Speculum veritatisAus der Fäulnis steigt ein Regenbogen auf, die alchemistischen Prozesse gehen auf einer höheren Stufe weiter. Die Fäulnis wird laut Crowley durch den Raben dargestellt. Er sitzt auf einem Schädel über dem Kessel.

Der Fäulnisprozess wird in der Alchemie für das Opus Magnum genutzt, wo aus unedlen Stoffen durch Transmutation am Ende Gold entsteht.

Am Anfang steht die sogenannte Materia Prima, der Urzustand der Materie.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Inschrift der Karte:

– visita interiora terræ rectificando invenies occultem lapidem –

– besuche das Innere der Erde, durch Rektifikation wirst du den verborgenen Stein finden –

Die Rektifikation ist ein Verfahren, bei dem ein Vielstoffgemisch aufgetrennt wird. Es handelt sich um die vollendete Kunst der Alchemie, die Suche nach „dem Stein der Weisen„.

Schauen wir uns die Karte genauer an:

Die doppelköpfige Gestalt, die Verschmelzung der Liebenden, ist androgyn gehalten. In ihr hält sich das Yin und das Yang in Balance. Sie gießt Feuer und Wasser in einem goldenen Kessel zusammen. Das Feuer (Yang) ist das formende, aktive Schöpfungselement. Das Wasser (Yin) ist die aufnehmende, positive Hingabe. Beides vereint sich zur Ganzheit, zum bereits erwähnten Stein der Weisen.

Die Kunst im Crowley TarotDie aufsteigende Substanz, der Regenbogen, steht für die neue Energie, den neuen Geist – das neue Leben. Er legt sich um den androgynen Alchemisten. Der Regenbogen fließt, das Bewusste wird mit dem Unbewussten vermischt und ergibt eine Einheit, eine allumfassende kosmische Kraft. Schöpferische Prozesse werden vollzogen, Yin und Yang gelangen in Harmonie. All die Polaritäten in unserem Wesen streben nach Balance.

Die vielen Brüste stehen für die nährenden Kräfte, die direkt aus dem Schoß der Natur fließen. Es ist an uns, alle eigenen Anteile zu erkennen. Wir sind auf dem Weg, als ganzheitlicher Mensch zu erwachen. Unser gesamtes Potential wartet darauf, ausgeschöpft zu werden. Das Licht und der Schatten in uns müssen in Einklang gebracht werden – die Geburt des vollständigen Seins.

Die Kunst liegt darin, sich von dem Druck zu befreien, dass irgendwas an uns falsch sei. Wir müssen aufhören, uns selbst zu bekämpfen. Es blockiert uns nur. Alle Anteile in uns haben ihre eigene Größe und wir dürfen alle Größen nutzen.

Das Feuer und das Wasser schwebten beim Narren noch über dessen Kopf. Nun stehen sie im Mittelpunkt der Karte. Alle Anteile sind integriert, verschmelzen miteinander zu unserem wahren Ich. Der Narr durchläuft auf seiner Reise abermals einen kreativen, transformierenden Prozess. Auch das grüne Kleid steht für das kreative Wirken. Auf dem Kleid finden sich Bienen. Sie gibt es sonst nur auf der Robe der Liebenden und der Kaiserin. Die abgebildeten Schlangen kennen wir von der Robe des Kaisers.

Löwe und Adler haben es vorgemacht und sich gewandelt. Der Feuer-Löwe erscheint als Wasser und der Adler als Feuer. Die Botschaft der Karte ist klar: Sei ein offener Kanal des Lebens. Lasse zu, dass alle Kräfte fließen. Erkenne dich und du hast den Stein zu Gold verwandelt. Das ist die Kunst unseres Daseins.


Quellen:

¹) Walker, Barbara G. (1994), Die Geheimnisse des Tarot – Mythen, Geschichte und Symbolik: Sonderausgabe. Gondrom Verlag.

Crowley, Aleister (2019), Toth Tarot: Originalausgabe (2. Aufl.).Krummwisch AGM-Urania.

Waite, Arthur Edward (01. Januar 1978), Der Bilderschlüssel zum Tarot: Erste Auflage, Urania.

Angeles Arrien (2001), Handbuch Crowley Tarot: Praxisbezogene Anleitung zur Interpretation des Aleister Crowley Tarots (4. Aufl.).Neuhausen/Schweiz Urania Verlags AG. [online: http://rkspiele.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/04/Tarot-Hanbuch.pdf. [Stand 23.07.2021]]

docplayer.org: Gerd Ziegler. Tarot: Spiegel der Seele. Handbuch zum Crowley-Tarot. (Stand unbekannt). http://docplayer.org/12116343-Gerd-ziegler-tarot-spiegel-der-seele-handbuch-zum-crowley-tarot.html. [23.07.2021]