Hel ist die nordische Totengöttin der Unterwelt. Ihr gleichnamiges Reich, auch Helheim genannt, nimmt all die Toten auf, die nicht als Krieger ihr Ende fanden oder ertrunken sind. Wer einmal in ihrem Reich gestrandet ist, den gibt sie nicht mehr her. Nur Baldur, Sohn der Frigg und Kind des Odins, ist es dank der Beharrlichkeit seiner Mutter gestattet, zu Ragnarök in die Welt der Lebenden zurückzukehren.

weitere Namen: Hella, Hell, Halja

Yggdrasil der Weltenbaum

Welch ein Stammbaum!

Nun, solch einen gewitzten Vater wie Loki es ist, kann es wohl auch in Midgard, der Welt der Menschen, geben. Allerdings wird dieser sich kaum in eine Stute verwandeln, um dann den Hengst eines Riesens zu verführen und das daraus resultierende Fohlen Sleipnir zur Welt bringen, welches übrigens acht Beine hat und Odin als Geschenk gereicht wurde. Aber Lokis Geschichte, so aberwitzig sie auch sein mag, sei an einem anderen Tag erzählt. Heute geht es um eines seiner Kinder, die Totengöttin Hel.

Was soll aus einem Kind werden, dessen Vater der hinterlistigste Gott ist, der je im nordischen Pantheon lebte. Ihre Mutter ist eine Riesin namens Angrboda, weshalb Hel selbst nicht dem Geschlecht der Asen, sondern dem der Riesen zugeordnet wird. Als wäre dies nicht genug, ist Hel die Schwester des Fenriswolfes, welcher Odin zu Ragnarök verschlingt, und der Midgardschlange. Zusammen zählt das Geschwister- Trio zu den drei nordischen Weltfeinden. Die Götter erkannten die Gefahr, welche von ihnen ausging. Sie banden den Fenriswolf an die unbezwingbare Kette Gleipnir, warfen die Midgardschlange in die Untiefen des Meeres und verbannten Hel aus ihrem Reich.

Auszug auf der Prosa Edda | Gylfaginning¹

Loki hatte noch andere Kinder. Angurboda hieß ein Riesenweib in Jötunheim: mit der zeugte Loki drei Kinder: das erste war der Fenriswolf, das andere Jörmungand, die Midgardschlange, das dritte war Hel. Als aber die Götter erfuhren, daß diese drei Geschwister in Jötunheim erzogen würden, und durch Weissagung erkannten, daß ihnen von diesen Geschwistern Verrat und großes Unheil bevorstehe, indem sie Böses von Mutter-, aber noch schlimmeres von Vaterswegen von ihnen erwarten zu müssen glaubten, schickte Allvater die Götter, daß sie diese Kinder nähmen und zu ihm brächten.

Als sie aber zu ihm kamen, warf er die Schlange in die tiefe See, welche alle Länder umgibt, wo die Schlange zu solcher Größe erwuchs, daß sie mitten im Meer um alle Länder liegt und sich in den Schwanz beißt. Die Hel aber warf er hinab nach Niflheim und gab ihr Gewalt über neun Welten, daß sie denen Wohnungen anwiese, die zu ihr gesendet würden: solchen nämlich, die vor Alter oder an Krankheiten starben. Sie hat da eine große Wohnstätte; das Gehege umher ist außerordentlich hoch und mit mächtigen Gittern verwahrt. Ihr Saal heißt Elend, Hunger ihre Schüssel, Gier ihr Messer, Träg ihr Knecht, Langsam ihre Magd, Einsturz ihre Schwelle, ihr Bett Kümmernis und ihr Vorhang dräuendes Unheil. Sie ist halb schwarz, halb menschenfarbig, also kenntlich genug durch grimmiges, furchtbares Aussehen. […]

Vers 34 der Gylfaginning – Übersetzung Karl Simrock

Yggdrasil der Weltenbaum

Hel, die Göttin der Toten

Jacob Grimm, der nicht nur, gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm, die Volksmärchen niederschrieb, sondern der sich ebenfalls intensiv mit der mythologischen Geschichte auseinandersetzte, vermutete in Hel eine Verbindung zur Göttin Holle. Seiner Meinung nach ist Hel eine der Urgöttinnen.

Dies belegt er unter anderem damit, dass viele Ortschaften ihren Namen als Bestandteil tragen. Er gehört jener Fraktion an, die glauben Helheim sei von der Göttin selbst gegründet. Es gibt noch eine zweite Version der Geschichte, die heutzutage geläufig ist. Demnach gab es das Reich bereits und der Name der Göttin leitete sich aus ihrer Funktion als Hüterin dieser Welt ab.

Wie auch immer, als Riesin geboren, herrscht die Göttin über das Reich all jener Toten, die nicht gefallen oder ertrunken sind. Ihr ward beizeiten der Status einer Göttin zuerkannt worden. Sie selbst ist eine der wenigen Göttinnen, die schon mindestens seit dem 9. Jahrhundert² allen germanischen Völkern bekannt war. Nicht nur die Göttin selbst, gleichsam ihr Reich trägt in allen Teilen der alten, nordischen Welt den gleichen Namen.

Selbst den Goten war Hel durchaus ein Begriff. Sie nannten sie „haljoruna“, Hel – die Anwenderin der Runen. So sind ihr gleich mehrere Runen zugeordnet: Hagalaz, Berkana und Isa.

Woher stammt der Name?

Ihr Name selbst leitet sich von „verstecken“, etwas „verbergen“ ab. Noch heute kennen wir den Begriff etwas „verhehlen„. Der christliche Begriff der „Hölle“ soll von der Göttin abstammen. In der Christen-Hölle aber schmoren die Menschen für ihre Sünden. Es ist heiß und insgesamt ein Ort der Strafe. In Hel(heim) ist es nebelig und kalt. Fällt ein Gefallener nicht in Odins Obhut oder ein Ertrunkener in die Hände von Ran, so kommen die Toten alle gleichermaßen in Hels Reich, wie immer sie zuvor gelebt haben. Schuld, Sühne und Höllenfeuer sind unbekannt.

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Wer steckt hinter der Maske der Totengöttin?

Oftmals wird die Göttin als eine Personifizierung des Todes dargestellt. Typisch ist es, dass ihre Geschwister, der Fenriswolf und die Midgardschlange, so wie im Titelbild, neben ihr stehen. Dies war vor allem dem stark christlichen Einfluss zu verdanken, welcher in dem Wolf den Schmerz und in der Schlange die Sünde symbolisierte. Das Heidentum kennt, wie gesagt, den Begriff der Sünde nicht. Für diese Naturreligion ist der Tod ein natürlicher Bestandteil allen Lebens, der weder verdammt noch hervorgehoben werden muss.

Im Gegensatz zu vielen anderen Göttern, wurde Hel vom Christentum nicht unter den Teppich gekehrt. Zu verlockend war die Versuchung, sie als abgrundtief böse darzustellen. Wozu verdammen, wovor sich eh jedermann fürchtet?

Wie auch immer die Geschichte sich drehen und wenden lässt, Fakt ist, Hel ist eine rigorose Göttin mit nahezu grenzenloser Macht. So wie die Frau Holle, mit welcher sie nicht nur ein ähnlich klingender Name verbindet. In den Zeiten der Pest hieß es einst: Hel würde mit Besen und Harke über das Land ziehen. Frau Harke ist ein in Norddeutschland gebräuchliches Synonym für Frau Holle. Fand sich in einem Ort, an dem die Pest wütete, noch ein Überlebender, so wurde er hinfort geharkt. Waren bereits alle Menschen des Todes, so nahm die Göttin den Besen zu Hand und kehrte gründlich aus.

Die zwei Gesichter der Hel

Wenngleich Hel oftmals als Todesgöttin tituliert wird, ist sie vielmehr die Hüterin der Verstorbenen. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. Bei Hel ist es das Licht und der Schatten, das Helle und das Dunkle, schwarz und weiß. In vielen Zeichnungen ist diese Dualität der Göttin hervorgehoben. So ist ist auf der einen Seite das blühende Leben, während die andere Körperhälfte bereits verwest.

Einst stand der Begriff hel-blau für die Farbe, welche den Toten zugeordnet war. Es wird angenommen, dass der Begriff von den Leichenflecken herrührt. Die alten Heiden wussten, dass der Körper sich tief blau-violett verfärbt, wenn er Gegendruck erhält. So verfärbt sich stets eine Körperseite der Leiche, die auf dem Boden liegt. Auch der Mantel Odins ist hel-blau.

Wie auch immer Hel erscheinen mag, eines ist gewiss. Sie ist gerecht in ihrem Auftreten. Sie unterscheidet nicht zwischen arm und reich, ja nicht einmal zwischen Mensch und Gott. Alle finden gleichermaßen in ihrem Reich Einlass und keiner kommt dort so schnell wieder heraus.


¹ Übersetzung von Karl Simrock

² Im 9. Jahrhundert wurde Hel im Skaldengedicht Ynglingatal erstmalig erwähnt.

Quellen

  • Deutsche Mythologie, Jacob Grimm; Marix Verlag, Wiesbaden 2007.
  • Lexikon der germanischen Mythologie, Rudolf Simek, 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006.
  • Ásatru – Die Rückkehr der Götter, zusammengestellt von Kveldúlf Hagan Gundarsson, Deutsche Ausgabe erweitert und herausgegeben von Kurt Oertl, Edition Roter Drache; Auflage: 3 (20. Oktober 2015)

Titelbild

Lokis Gezücht Lokis Gezücht von Emil Doepler d. j. – Quelle