Baba Jaga – da werden Kindheitserinnerungen wach. Wie habe ich es geliebt, wenn einer der russischen Märchenfilme im Fernsehen lief und die böse Hexe auf der Mattscheibe so ihr Unwesen trieb. Vermutlich sollte sie uns Kindern Angst einflößen, aber ich fand sie einfach nur lustig und spannend zugleich. Konnte sie doch in ihrer Bratpfanne den Wald beobachten oder Feuerstürme herbeirufen. Ich liebte ihre Tarnkappe, mit der sie unsichtbar wurde. Und eitel war sie, hielt sich stets für die Schönste von Allen, mit ihrer krummen Nase und dem Knittergesicht. Wusstest du, dass hinter der Maske ein Mann steckte? Ich war ein wenig enttäuscht, als ich das erfuhr.

Heute weiß ich ein wenig mehr über diese alte, krautige Hexe aus dem Wald, die in einem Häuschen lebt, welches auf zwei Hühnerbeinen (oder mal nur einem) steht und das ihr folgt, wenn sie es ruft. Schauen wir mal, ob hinter dieser interessanten Märchenfigur wirklich eine böse, grausige Hexe steckt, die kleine Kinder zum Fressen gern hat.

Füttere ich dich aber erst ein wenig mit einer kleinen Geschichte. In dieser gibt es, wie so oft, eine böse Stiefmutter. Die zwei Stiefkinder sind ihr ein Graus und sie schickt sie fort – direkt zur Baba Jaga. Diese ist hungrig und das lässt nichts Gutes erahnen. Überhaupt kommt Baba Jaga nicht so gut weg, denn sie behandelt ihre Tiere, Pflanzen und allerlei Gegenstände in ihrem Haus echt mies. Gut für die Kinder, denn sie alle haben genug von der alten Hex und helfen den Beiden.

Die selbstverständlich schwarze Katze gibt ihnen zudem ein Tuch und einen Kamm mit auf den Weg. Stinkesauer verfolgt Baba Jaga ihr Abendbrot. Flink werfen die Kinder das Tuch auf den Boden, welches sich in einen Fluss verwandelt und der Hexe den Weg abschneidet. Den Kamm warfen sie ebenso und dieser wurde zu einem dichten Wald. Die Kinder schafften es nach Hause, der Vater warf die garstige Alte hinaus und alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

Baba Jaga

Wer ist Baba Jaga?

Baba Jaga ist nur eine von vielen dunklen Frauen, die im Wald hausen und Kinder erschrecken, denken wir nur an die Hexe, die es gar nicht lustig fand, dass zwei Kinder an ihrem Häuschen knabberten. Was, wenn dies aber keine Hexen, sondern Göttinnen waren? Wenn sie, wie so viele magisch wirkende Frauen, der Missionierung zum Opfer fielen?

Zum Glück sind nicht alle alten Geschichten auf ewig verloren. Baba Jaga ist – Hexe hin oder her – auf jeden Fall eine große Zauberin. Sie besitzt einen Mörser, so wie eben jene zum Verreiben von Kräutern – natürlich frisch gepflückt aus dem Hexenwald. Mit diesem Mörser bewirkt Baba Jaga sonderbares. Alles Alte, Überholte, jenes, was ausgedient hat … all dies wirft sie hinein und zermahlt es bis in die letzte Faser, um Neues entstehen zu lassen. Das klingt nach purer Transformation und ebenso nach einer Reise der Initiation – der Erneuerung der eigenen Kräfte. Findest du nicht?

Ich mische mir mitunter, wie es sich für eine Hexe gehört, mein eigenes Transformations-Pulver, ein schwarzes, dunkles Pulver – das Schwarze Salz. Mit diesem kommen Dinge zu Tage, mit denen ich meist überhaupt nicht gerechnet habe. Beim Zermahlen denke ich an Baba Jaga und bitte sie, das Schwarze Salz besonders wirkungsvoll werden zu lassen.

Salz ist Jahrtausende alt, voll mit all den Ur-Informationen ganz alter Zeiten. Es liebt den Ruß von Hexenkesseln, aber ebenso kannst du beispielsweise Kohle von einem besonderen Feuer verwenden, wie zum Beispiel dem Mittsommer-Feuer. Zermahle es, bis du das Gefühl hast: „Nun ist genug!“. Fülle es in eine schöne Flasche und nutze es, wenn du besonders starke Transformationskräfte brauchst.

Schon im Mörser lassen sich Geschehnisse transformieren. Tun wir es also Baba Jaga gleich und werfen wir mit der Kraft unserer Gedanken alles hinein, was gehen darf. Übrigens transformiert sie in diesem Gefäß nicht nur, sie fliegt mit dem Mörser durch die Lüfte und steuert ihr Gefährt mit dem großen Stößel. Ich vermute, in ihr steckte gleichsam eine große Heilerin, denn eben jene gebrauchen einen Mörser für Trank und Brei. Sie hat auf ihren Flügen einen Besen dabei, mit dem sie all ihre Spuren verwischt. Es ist also gar nicht so einfach, sie zu finden.

Altes in Neues zu transformieren bedeutet immer, etwas sterben zu lassen. Der Tod ist in den Geschichten und Sagas eng mit der alten Weisen, der schwarzen Göttin, der Greisin verbunden – wie die Urd der drei Nornen, die Cailleach, die Hel oder eben die Baba Jaga.

Schauen wir hinein in die Slawische Mythologie, so finden wir die Baba Jaga dort als Totengöttin, aber ebenso als Göttin der Wiedergeburt. Jeder Tod bedeutet neues Leben, jedes neue Leben bedeutet Tod. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Energie entsteht nie aus dem Nichts, sie kann sich immer nur transformieren – das lernten wir schon im Physikunterricht. Und Wissenschaft irrt sich nie. Moment mal. Okay, also hier zumindest nicht. Dies ist wirklich nicht nur ein physikalisches, sondern ein kosmisches Gesetz.

Die alten, schwarzen Göttinnen tanzen, wie der Tod im Tarot, den Danse Macabre, den Totentanz. Sie sind es, die die Fäden des Lebens abschneiden – mittendrin, wenn nötig oder eben, wenn alles Sand durch die Uhr gelaufen ist. Zumindest, wenn sich sonst niemand einmischt, aber das geschieht meist nur in der Scheibenwelt¹. Läuft alles so, wie es soll, so steigen wir aus einem jeden Totentanz auf, wie der Phönix aus seiner Asche. Der Initiationsritus ist vollzogen.

Eine solche, stark transformierende Kraft wohnt der Baba Jaga inne. Sie ist nicht nur eine Totengöttin. Sie ist eine Hüterin des uralten Wissens, eine alte Weise, eine Initiatorin für neue Lebensprozesse.

Ist sie in den Märchen grausam und Kinder verspeisend, so zeigen die Mythologien noch ein anderes Bild. Und anders als in der Märchen-Mogelpackung ist sie definitiv eine Frau und ganz besonders mit eben diesen verbunden. Ihnen stellt sie Aufgaben, die es zu erfüllen gilt. Der Lohn ist eine achtsame Spiritualität, eine tiefe Weisheit und eine höhere Verbindung zu den kosmischen Sphären.

Wie im Märchen, ist sie in den alten Geschichten Bewohnerin des Hexenhäuschens auf einem Hühnerbein. Um das Haus herum hat sie einen schützenden Hag aus Menschen- und Tierknochen. Der Garten besteht ebenso aus Knochen und ist grausig anzuschauen. Der Einlass wird eben nicht jedem Wesen gewährt, sondern nur denjenigen, die reinen Herzens und voller Mut sind. Solltest du also jemals vor ihren Toren stehen, so fasse dir ein Herz und tritt mutig ein. Die Pfosten ringsumher wirken vermutlich abschreckend, denn auf ihnen sind Menschenschädel aufgespießt. Schaust du genau hin, so siehst du, dass auf einem Pfosten nichts thront. Er wartet noch auf den richtigen Kopf – möge es nicht der deine sein.

Du brauchst eine Zauberformel, um Einlass zu bekommen. Ich verrate sie dir. Sage laut und deutlich: „Dreh dich mit dem Rücken zum Wald, mit der Vorderseite zu mir“. Das Problem dabei ist jedoch, ist Baba Jaga zu Hause, dann sorgt sie dafür, dass das Haus nicht gehorcht und sich einfach weiterdreht. Hast du es irgendwie zur Tür geschafft, so sei ja auf der Hut, denn das Schlüsselloch ist ein Mund mit rasiermesserscharfen Zähnen.

Du findest Baba Jaga natürlich im Wald, denn das ist ihr Reich. Ich würde es dort versuchen, wo er am dichtesten ist und zahlreiche Fliegenpilze aus dem Boden schießen.

Sei dir aber gewiss, sie wird dich auf die Probe stellen. So lockt sie mit wunderbaren Geschenken. Bist du klug, so achtest du nicht weiter auf sie, sondern wählst das Unscheinbarste von allen, denn in diesem wartet das große Glück auf dich. So erzählen Geschichten davon, wie sie Rosen verschenkt, die zu einer reichen Belohnung werden. Sie warnen aber zugleich davor, der Baba Jaga zu trauen, denn sie täusche die Menschen gerne. Ich denke ja eher, sie testet die Reinheit ihres Gegenübers. Diese Rosen, so heißt es, erfüllen Wünsche. Also lass einfach den Tand liegen und nimm die Rose – ein gut gemeinter Rat meinerseits.

Die Baba ist übrigens die Großmutter, die Babuschka. Es bedeutet ebenso „alte Frau“, aber in erste Linie bleibt es bei der Großmutter. Der zweite Teil des Namens ist umstritten, in serbo-kroatischen Ländern sowie in der polnischen und slowenischen Sprache bedeutet „Yaga“ Hexe. Das passt doch ganz gut zusammen: Großmutter Hexe – die alte Weise eben, denn das sind Großmütter ja wohl.

In den uralten Zeiten, als das Volk noch an die magischen Kräfte ihrer Göttin Baba Jaga glaubten, trat sie nicht nur als alte, sondern durchaus ebenso als junge Frau auf. Sie vermag sich also, zu wandeln. Mitunter wurde die Mutter Erde selbst als Baba Jaga bezeichnet und das zeigt ihren einstigen, hohen Stellenwert in der Geschichte der Slawen.

Alt und jung – Tod und Leben. Das passt. So schenkt sie Regeneration, Transformation und Wiedergeburt. So viel Frauenpower passt nicht in enge Kirchenköpfe hinein und so muss heute mühsam das von ihnen geschaffene Bild einer Kinder-fressenden, bösen Hexe wieder ausradiert werden.

Die lange Nase und zusätzlich ein Gebiss aus altem Eisen trägt sie ebenso in den alten Mythen zur Schau. Das erschwert es natürlich, Vertrauen zu fassen. Zu Recht wohl, denn nicht immer ist sie den Menschen wohlgesonnen. Sie kann ihnen auch gehörig Schaden zufügen, wenn sie es denn verdient haben – nach den Maßstäben der Baba Jaga gemessen, das versteht sich von selbst.

Der Rest der Baba Jaga ist Haut und Knochen, obwohl sie ständig isst. Zudem hat sie ein durch und durch knöchernes Bein – ganz schön gruselig. Und wie die Telefonzelle in der Serie „Doctor Who“ ist ihr Hühnerbeinhaus innen größer als außen, denn sie selbst ist eine Riesin. Es wird erzählt, dass sie gerne auf ihrem riesigen Ofen liegt, der von einem Ende des Hauses bis zum anderen reicht. Die Nase stößt dabei fast an die Decke – so groß ist sie. Vielleicht ist das Haus auch einfach nur zu klein, wer weiß das schon so genau?

Baba Jaga

Wem hilft die Baba Jaga und wie?

Eigentlich habe ich es dir schon verraten, aber schauen wir noch ein wenig genauer hin.

In den Märchen trifft es oft den dummen Iwanuschka. Meistens ist er gar nicht so dumm, wie es den Anschein hat. Er ist eher naiv, unbedarft – eben reinen Herzens. In ihn kann die große Weisheit der Göttin noch einströmen, dieses ungeformte Gefäß lässt sich noch formen.

Iwanuschka ist also einfältig, aber darüber hinaus sehr höflich zum alten Mütterchen. Er trägt sein Herz wahrlich offen zur Schau und verzaubert damit die alte Hex. Er ist mitfühlend und herzensgut. In den Geschichten tut er keinem Tier etwas zu Leide. Selbst nicht, wenn sie ihn darum bitten. Als Dank erhält er von der Baba Jaga ein Geschenk mit magischen Fähigkeiten.

In einer anderen Geschichte lernen wir Vasilisa kennen. Sie ist die russische Variante unseres Aschenbrödels. Vasilisa wird von ihrer Stiefmutter und deren Töchtern gedemütigt, mit Arbeit überhäuft und stets gescholten. An einem Abend soll das arme Mädchen alle brennenden Kerzen hüten. Eine der bösen Stiefschwestern löscht versehentlich eine der Kerzen und gibt natürlich Vasilisa die Schuld.

Der Hausdrachen samt Brut hat nun endgültig genug von Vasilisa. Sie schicken sie mit einer Kerze zum Entzünden zu Baba Jaga in den Zauberwald, damit diese sie tötet. Bei Baba Jaga angekommen, stellt diese ihr sogleich die kompliziertesten Aufgaben. Vasilisa besitzt jedoch eine Zauberpuppe und diese hilft ihr durch alle Schwierigkeiten. Als Lohn erhält sie eine Kerze in einem Totenkopf als Laterne.

Dieses Feuer verbrennt ihre gesamte schreckliche Familie und Vasilisa ist frei. Am Ende wird sie gar zur Zarin gekrönt.

Dies ist eine wahre Initiationsreise – aus dem schmutzigen Aschenputtel wird die schöne Zarin. Wir müssen dabei immer ein wenig um die Ecke denken. Vasilisa durchläuft mit Hilfe der alten Göttin eine tiefe Transformation. Drei qualvolle Tode, viel Kummer und Leid muss sie bei Baba Jaga überstehen, ehe sie reif genug ist und die Hütte wieder verlassen darf.

Rufe sie an, wenn du etwas in dir wandeln möchtest, aber sei dir gewiss, dass du bereit bist, deine eigenen Tode zu sterben. Ein Zurück gibt es nicht. Auf dem Grund des Schmerzes wartet das Licht – so war es schon immer.

Bist du bereit für diese alte Urgöttin oder lebt noch die Furcht in dir?


¹Scheibenwelt – Das Reich des fantastischen Terry Pratchetts. Wer Oma Wetterwachs nicht kennt, hat echt die Welt verpennt!