Mit ein wenig Mut ist wirklich vieles möglich! Nur müssen wir uns dafür schon aus unserer Komfortzone, unserem gemachten Nest, bequemen. Das musste auch der Johannes lernen:


Die Geschichte vom Nesthäkchen Johannes

Da gab es einmal den Johannes. Johannes war etwa faustgroß und hatte zarten Flaum an seiner Haut. Von morgens bis abends zirpte er wild herum, streckte seine weit aufgerissene Schnute Mama Vogel entgegen und wollte nichts als essen.Mama Vogel mit Wurm

Die drei anderen weit aufgerissenen Mäuler gehörten Gert, Lissy und Marianne. Ein Spektakel war das! Papa Vogel rollte mit den Augen und flog wie von Sinnen hin und her um einen Wurm nach dem Anderen herbeizuschaffen. Mama Vogel war nicht minder fleißig.

So war es kein Wunder, dass die Viererbande zu stattlichen kleinen Jungvögeln heranwuchsen und ein immer dichteres Federkleid bekamen.

Lissy putzte sich von früh bis spät und konnte es gar nicht erwarten in die Welt hinauszufliegen, um sich einen stattlichen Bräutigam zu suchen. Marianne wollte fremde Länder erforschen und Gert einfach nur ein paar Kumpels finden, um mit ihnen im angrenzenden Stadtpark abzuhängen. Sie hüpften immer öfter voller Aufregung am Nestrand herum. Gert wäre beinahe ein Malheur passiert, als er vor lauter Übermut die Balance zu verlieren drohte. Nur Johannes war einfach ein Träumerle und dazu auch ein klein wenig feige.

Oh er malte sich in seinem Kopf die wunderbarsten Welten aus. Reiste nach Phantasia wo es Würmer im Überfluss gab und er ein nettes Vogelmädchen zum gemeinsamen Sterne schauen einladen konnte. Dann wieder schwebte er wie ein Adler durch die Lüfte oder begrüßte schreiend wie eine Möwe das heimkehrende Schiff.

Gert, Marianne und Lissy verspotteten das Nesthäkchen und versuchten immer wieder ihn an den Rand des Nestes zu locken, aber Johannes kuschelte sich in die bequemste Ecke und überlegte den lieben langen Tag und die liebe lange Nacht lang neue Abenteuer. Unter uns und ganz im Vertrauen: Johannes hatte eine riesige Angst davor sein Nest zu verlassen.

Als Erstes wagte Lissy den Sprung, als ein stattlicher Jungvogel namens Paul um die Ecke flog. Sie drehte ein paar seltsam anmutende Pirouetten und wäre dabei  fast auf dem Asphalt gelandet. Die Liebe jedoch beflügelte sie und so hatte sie den Dreh, wie man möglichst elegant durch die Lüfte flattert, schnell heraus. So weit es mir bekannt ist, wurden Paul und Lissy schnell ein Paar, heirateten und bekamen viele kleine Fressmäuler, denen Paul mit rollenden Augen das Futter herbeischaffte.

Marianne folgte ihr alsbald. Sie ward Öfteren in Afrika gesehen und einmal wohl auch in China. Vogel in China

Gert war der Dritte, den einfach nichts mehr im Nest hielt. Er hängt wohl noch heute mit seinen Kumpanen im Stadtpark ab.

Nur Johannes hockte, noch immer Gedanken verhangen, im Nest. Seine Eltern hatten schon Sorge, dass sie ihn für alle Ewigkeit durchfüttern müssen.

Eines Nachts, Mama Vogel und Papa Vogel waren auf einer Hochzeit, schaute Johannes wieder zu den Sternen. Er verweilte gerade verträumt auf einem Planeten mit besonders grünen Vögeln, als ihn zwei riesige Augen anstarrten. Mit einem gewaltigen Satz sprang Johannes zurück und wäre hinter ihm nicht die Fassade gewesen, ein schlimmes Ende hätte es genommen. Johannes bibberte am ganzen Leib. Es ist leicht von einem Abenteuer zu träumen, aber nun schien er in Eines mitten hinein katapultiert worden zu sein. Das war eine gänzlich andere Geschichte und Johannes schwante: Er saß ziemlich in der Patsche.

„Guten Abend Johannes!“ ‚Ach Du Schande, diese riesigen Augen kannten seinen Namen.‘ Hätte Johannes gewusst, dass es die Augen einer Eule waren und das diese Eule mindestens so weise war wie ein Guru, so hätte ihn das wohl nicht allzu sehr verwundert. So blieb ihm nur vor lauter Schreck der Schnabel offen stehen und er bewegte sich keinen einzigen Millimeter.

 

weise Eule„Ich bin Norbert, die Eule!“, brummte es mit tiefer Stimme. „Siehst Du den riesigen Baum dort hinten am Rand des Parks? Dort bin ich zu Hause.“

Johannes versuchte möglichst bewegungslos zu dem besagten Baum zu schielen, aber konnte im Dunkel der Nacht nichts erkennen.

„Ich habe deine Eltern ankommen sehen, sah sie das Nest bauen, sah deine Mama nachtein nachtaus über ihre Eier brüten und legte mir eine Vorratspackung Ohrenstöpsel zu, als ihr wild nach Essen tschilptet. Ich sah deine Geschwister das Nest verlassen und sah auch, dass du keine Anstalten machtest auch nur in die Nähe des Nestrandes zu treten. Stattdessen schaust du Nacht für Nacht verträumt zu den Sternen und mir scheint du würdest von fernen Abenteuern träumen.“

Johannes Augen wurden groß vor Staunen. Nicht so groß wie die von Norbert, aber so viel fehlte da nicht. Zögerlich nickte Johannes.

„Hmmmm …“, raunte Norbert. ‚Hmmmm …‘, dachte Johannes.

Norbert schüttelte dreimal bedächtig mit dem Kopf und sprach: „Also lieber Johannes, ich denke es ist folgendermaßen: Du bist ein Held, ein Abenteurer, ein Casanova und Weltenumflatterer. In deinem Geist! In deinem Hasenherzen traust du dich nicht einmal zum Rand um einen klitzekleinen Blick zu riskieren. Hmmmm, hmmm. Ich bin alt und habe vieles in der Welt erlebt und glaube mir: Es ist das eine von einem Leben in der weiten Welt zu träumen und etwas gänzlich anderes es auch wirklich zu tun. Wie kannst du wahrhaftig ein Abenteurer sein, wenn du nie selbst eines erlebt hast? Wie kannst du von der Liebe träumen ohne sie je kennengelernt zu haben? Wie kannst du die Welt umflattern ohne je geflogen zu sein? Du liebst doch Würmer, hättest du je gewusst wie sie schmecken, wenn du sie nicht probiert hättest?“

‚Da ist was dran.‘, dachte Johannes. „Aber …“, piepste er vorsichtig ohne Recht zu wissen, was er erwidern soll.

„Aber, aber, aber“ wiederholte Norbert. „Kein Aber! Abenteuer kitzeln bis in das kleinste Gefieder, die Liebe verwandelt dein Herz in ein endloses Meer goldschimmernder Farbe. Die Welt wird dir den Atem rauben! Es ist Zeit zu fliegen. Spüre den Wind in den Federn, atme fremde Düfte und erobere das Herz einer entzückenden Vogeldame! Oder du bleibst für alle Zeiten in deinem gemachten Nest, träumst von all den Dingen, die du nie erleben wirst und erfährst nie von all den Dingen, die du nicht einmal erahnst. Ja und eines Tages, eines Tages wirst du alt und einsam sterben und nie gewesen sein, was du dir erträumst.“

Da musste Johannes schwer schlucken und ein dicker Kloß drückte in seinem Hals. „Norbert, ich hab Angst das meine Flügel mich nicht halten. Ich könnte einen Freund wie dich recht gut brauchen.“

„Pass auf“, sprach Norbert, „Wir machen es wie folgt! Steig auf meinen Rücken, krall dich fest und wir drehen eine Runde durch den Stadtpark. Danach entscheidest du, was du tun möchtest.“

Johannes schien das ein recht passabler Vorschlag zu sein und so krabbelte er vorsichtig auf Norberts Rücken, krallte sich tief in dessen Gefieder und schloss schnell die Augen, als dieser sich mit ihm in die Lüfte erhob.fly away

Das war ein Gefühl!

Er spürte den Wind und sein Herz pochte wild. Langsam öffnete er erst das eine, dann das andere Auge. Sie flogen über Baumkronen hinweg. Ein kleiner See lag glitzernd im Mondlicht unter ihnen und in einer Lichtung knutschten wild zwei Füchse. Jetzt flog Norbert dicht über die in der ganzen Vogelgemeinde berüchtigte Brücke hinweg und als Johannes seinen Bruder Gert erblickte rief er laut: „Hey! Hey Gert!“ Der staunte nicht schlecht und als er seinen Kumpels stolz erzählte, dass dies sein kleiner Bruder war, konnte es es Johannes schon nicht mehr hören, denn sie sie flogen immer weiter in die Nacht hinein.

Johannes juchzte und jauchzte vor Vergnügen und angesteckt von seiner Freude zeigte ihm Norbert die ganze Stadt bevor sie zum Nest zurückflogen.

„Und?“, fragte Norbert. Der glückliche Johannes strahlte über das ganze Gesicht, kletterte zum Rand, sprang mutig ab, drehte ein zwei wacklige Pirouetten und schwebte dann, zur Freude von Norbert, selig durch die Lüfte.

Als Mama Vogel und Papa Vogel beim ersten Sonnenstrahl von der Vogelhochzeit zurück kehrten, hatte Johannes soeben mit kräftigem Flügelschlag die Stadtgrenze passiert und flog mutig seinem ersten wahrhaftigen Abenteuer entgegen.

 

Johannes fliegt davon

 

Nun am Ende dieser Geschichte stellt sich die Frage: Willst du ewig im Nest hocken bleiben oder willst Du fliegen?

Alles kann anders werden, wenn wir uns trauen.

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