Ach hätt ich doch mal. Ich versuche diesen Satz so selten wie möglich in mein Leben zu lassen, aber in diesem Fall wünschte ich wirklich: „Ach hätt ich doch mal.“ Hätte ich als Kind meinem „erwachsenen“ Ich doch einen Brief geschrieben. Meine Träume und Wünsche an formuliert, die als Kind in mir wohnten.

Gerne würde ich diesen Brief jetzt lesen und meinem teils verlorenem Kind den Raum in meinem Leben schenken, welchen es verdient hätte. Leider habe ich einen solchen Brief nie verfasst. So bleibt mir nur die Erinnerung. Der Blick in alte Zeiten ist gepflastert mit den Wegen neuer Erfahrungen. So ist das Bild verwässert und gewiss neu ausgeschmückt.

Bilder in meinem Kopf

Gab es eine Zeit, in der ich die Kindheit einfach nur weit hinter mit lassen wollte, so versuche ich seit einiger Zeit mich zu erinnern, wer ich einst war und was ich mir wünschte.

PrimaballerinaBilder entstehen in meinem Kopf. Mit dem Teppichklopfer in der Hand stehe ich vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und bin die größte Rock-Ikone, die die Welt je gesehen hat.

Im nächsten Moment war ich eine Primaballerina, die mit häufigem Bodenkontakt versuchte, nur auf den Zehenspitzen stehend eine Pirouette zu drehen. Ich spielte die Scarlett O’Hara so herzzerreißend, dass ich selbst weinen musste. Ich war ein Clown, Artistin und Pantomimin.  Eines stand außer Frage, ich werde etwas ganz Großes.

„Ich gehöre auf eine Bühne!“ Soviel war klar.

Ich war Piratin auf hoher See, erforschte fremda Galaxien, schlüpfte in die Rolle von Pipi Langstrumpf und kämpfte für die Freiheit. Ich war voller Mut und voller Ideale.

… solange ich allein war!

Meine Welt gehörte nur mir

Schon damals scheute ich das Publikum. Nie spielte ich meine Rollen vor anderen Kindern, erst recht nicht vor meinen Eltern. Das Spiegelbild war meine einzige Zeugin. Eine begeisterte Zuhörerin meiner Darbietungen, nahezu euphorisch entzückt über das Ausmaß meiner Talente und Fähigkeiten. Mehr brauchte ich nicht.

Meine Traumwelt war kunterbunt, schillernd schön und sie gehörte mir allein.

Außerhalb dieser glitzernden Seifenblase traute ich mich nicht einmal alleine in den Bäcker, um mir ein Stück Kuchen zu kaufen. Die Vorstellung, dass die Bäckersfrau mich etwas fragen könnte, lähmte mich. Das Angebot an Teigwaren einfach zu riesig. Ich wüsste nicht, was nehmen, die Frau würde böse werden und ich in Panik verfallen. Eine schöner Heldin war ich!

Ein eigen-sinniges Kind

Ich war schon ein eigen-sinniges Mädchen. Streifte allein durch Wälder, hüpfte durch Bäche und kletterte auf die höchsten Bäume. Selten spielte ich mit anderen Kindern. Irgendwie kamen wir nicht miteinander zurecht. Sie waren zu laut, unberechenbar in ihren Taten, teils zerstörerisch und interessierten sich ganz und gar nicht für die Dinge, welche mich fesselten.

Schmetterlinge und AnemonenIch konnte stundenlang einem Schmetterling hinterherlaufen und mich an ihm erfreuen. Mit meinem Taschenmesser ließen sich magische Skulpturen schnitzen. Ich liebte es, auf dem Rücken im Gras zu liegen und mir Geschichten zu vorüberziehenden Wolkenbildern auszudenken. Meine Welt war endlos. In der Welt der anderen Kindern fühlte ich mich klein und irgendwie eckig. Die Jungs spielten Fußball, die Mädchen Vater, Mutter, Kind.

Ich baute mir aus einem riesigen Traktorenreifen ein Floß und fuhr solange damit flussabwärts, bis sie einen Suchtrupp losschickten.

Auch ich wurde älter

Später entdeckte ich die Welt der Bücher und begann zu schreiben. Lesen, schreiben und schreiben und lesen. Tagein, tagaus.

Mit der Zeit wurde ich nicht erwähnenswert größer, aber älter.

Die Abenteurerin in mir habe ich nie ganz verloren. Ich war schon ein Stückchen über Zwanzig als ich mit meiner besten Freundin versuchte, per Tretboot vom Ostseestrand nach Dänemark zu gelangen. Die Wasserpolizei hatte leider entschieden etwas dagegen, so dass wir resigniert aufgeben mussten.

In Wandergebieten mit felsigen Abschnitten klettere ich noch immer überall hinauf. Ich stelle mich mit leuchtenden Augen unter einen Wasserfall. Das ich danach kilometerweit in klatschnassen Sachen zurückwandern muss, spielt keine Rolle. Mein Herz tanzt und lacht vor Freude.

Ich beobachte noch immer die Wolken und erfinde Geschichten. Ich liebe Schmetterlinge, aber laufe nicht mehr hinter ihnen her.

Ich bin auch keine Piratin und keine Rockerin mehr. Das Ballett genieße ich lieber im Zuschauerraum und den Schauspieler:innen überlasse ich freiwillig alle Bühnen dieser Welt.

Mitunter stelle ich mich noch immer vor den Spiegel und ziehe Grimassen. Mein Spiegelbild ist längst nicht mehr so begeistert dabei wie ich.

Meine Leidenschaft ist die Welt der Worte

Eines jedoch ist unverändert: Mein inneres Bedürfnis Wörter zu Geschichten zu formen. Es ist wie ein Fieber, welches mich immer wieder erfasst. Stundenlang sitze ich gedankenverloren in dieser Welt und schreibe mir die Seele aus dem Leib. Das Meiste davon bekommt wohl wohl nie jemand zu Gesicht und doch lasse ich die Menschen oft in meinen Buchstabenwald, damit sie je nach Lust und Laune dort ein wenig umherwandern können.

Erwachsene sind doch irgendwie komisch

In dem Brief, an mein erwachsenes Ich, hätte ich mich wohl gebeten, all die Dinge der Kindheit noch immer zu tun und ganz gewiss hätte ich mich dringend dazu aufgefordert, keine so bescheuerte Erwachsene zu werden, denn von denen war ich damals nur zu einem wirklich sehr geringen Maße angetan.

Könnte das Kind von einst mich heute sehen, wäre es wohl einigermaßen zufrieden mit mir und doch würde es in vielen Momenten auch einfach streng den Kopf schütteln oder traurig lächeln.

Ich habe mir fest vorgenommen in Zukunft mehr darauf zu achten, nicht zu sehr erwachsen zu sein. Kinder haben recht: „Erwachsene? Die sind doch alle irgendwie ein wenig komisch.“

 

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